Marcus Tullius Cicero war »der erste Humanist«, schreibt Stefan Zweig<br/>(1940). Warum der erste, warum gerade damals, was bedeutet »Humanist<br/>« im ersten Jahrhundert v. u. Z., eineinhalb Jahrtausende vor der<br/>Erfindung des Berufsnamens umanista?<br/>Cicero ist ein »neuer Mann« (homo novus), ein Aufsteiger, ein engagierter<br/>Anwalt, vorbildlicher Beamter, der letzte Verfechter der Adelsrepublik<br/>und ihrer Freiheit. Er ist erklärter Zivilist, kein Pazifist; er<br/>verteidigt römischen Imperialismus, Kolonialismus, Sklaverei. Cicero<br/>ist Philhellene, Philosoph und Politiker, bekennender Anhänger der<br/>skeptischen Akademie, ein Zweifler aus Prinzip. Aber er vertritt die<br/>stoischen Lehren von Natur und Vernunft.<br/>Der Begriff humanitas – »Humanität, Menschheit, Menschlichkeit,<br/>Menschsein« – wird in Ciceros Reden, philosophischen Dialogen<br/>und Briefen sehr häufig gebraucht. »Humanität« ist bestimmt durch<br/>»Mitgefühl, Barmherzigkeit, Milde«; sie steht gegen »Grausamkeit«<br/>und »Rohheit«. Deswegen ist »Entrohung« und »Bildung« wichtigste<br/>Aufgabe der menschlichen Sozietät. Mit seinem Diskurs »Humanität<br/>«, Natur und Vernunft, Entrohung und Barmherzigkeit, Republik<br/>und Freiheit setzt Cicero in dem gewalttätigen, von Ungleichheit und<br/>Repression gezeichneten letzten Jahrhundert der römischen Republik<br/>einen Anfang des europäischen Humanismus. Es ist nur ein Anfang, es<br/>gibt noch andere Ansätze, und es gibt Fortschritte der humanistischen<br/>Bewegung. Aber, so sagt man, »der Anfang ist die Hälfte des Ganzen«.